Neue Heimat

Der Yishuv

Zur Zeit der 1933 einsetzenden fünften Einwanderungswelle stand Palästina als Mandatsgebiet unter britischer Verwaltung. Osteuropäische Zionisten, die ab 1904 ins Land kamen, prägten den Charakter des jüdischen Gemeinwesens in Palästina, den Yishuv. Als Kinder der Russischen Revolution verknüpften sie das Streben nach nationaler Befreiung der Juden mit der Befreiung des Proletariats. Die Pioniere idealisierten ein Zusammenleben in landwirtschaftlichen Kollektivsiedlungen, in denen ein jüdischer Arbeiter-und-Bauern-Staat heranreifen sollte, und schufen 1920 den mächtigen Arbeiterverband Histadrut, der eng mit Wirtschaft, Kultur, Sozialversicherung, Medien und Armee verflochten war. Die Histadrut besaß wichtige genossenschaftliche Unternehmen wie die Krankenkasse, Altenheime, Kliniken, die Arbeiterbank, Verlage und Zeitungen.

Deutsche Mittelstandssiedlungen

15 Prozent der mitteleuropäischen Einwanderer zwischen 1933 und 1939 ließen sich in landwirtschaftlichen Kolonien nieder: in Kollektivsiedlungen (den Kibbuzim), in Genossenschaftssiedlungen (den Moshavim) wie auch in anderen landsmannschaftlich geschlossenen landwirtschaftlichen Mittelstandssiedlungen.

Laut einer Volkszählung von 1933 waren nur 1,75 Prozent der Juden in Deutschland landwirtschaftlich beschäftigt. Die Gruppe der deutschen Einwanderer bestand zum Großteil aus Kaufleuten, Ärzten, Apothekern und Anwälten. In den „deutschen“ Mittelstandssiedlungen vollzogen die Einwanderer, die ohne landwirtschaftliche Erfahrung kamen, einen radikalen Berufswechsel. In der Gründergruppe der Siedlung Ramot Haschavim gab es 17 Ärzte und sieben Anwälte, aber nur einen Landwirt. Der Umbruch brachte Verzichte und Entsagungen mit sich.

Nachdem sie aus Breslau geflohen waren, kamen Gabi Schutz und seine Mutter im Heiligen Land die ersten drei Tage bei einer Freundin der Mutter unter. Anschließend folgten sie der Schwester der Mutter nach Ramat HaShavim. Gabi Schutz: Das Leben war schwer. Gabi Schutz

Die Familie Bukspan konnte nach ihrer Ankunft im Januar 1939 in einer Wohnung in der Nähe des Kibbuz Zuflucht nehmen, in dem bereits Brüder ihrer Mutter lebten. Batya Schutz

Zur bedeutendsten „deutschen“ Siedlung entwickelte sich das 1935 gegründete Naharia. Ein Versammlungsprotokoll von 1938 belegt die programmatische Forderung: „Einführung der hebräischen Sprache in Naharia und im Verkehr mit auswärtigen Instanzen“. Eine Ulmer Fabrikantenfamilie gründete in Naharia den führenden israelischen Lebensmittelkonzern Strauss, Andreas Meyer aus Rheda die weltbekannte Firma Naharia Glas und Stef Wertheimer aus Kippenheim den milliardenschweren Konzern Iscar. Als Naharia im Unabhängigkeitskrieg abgeschnitten und von den Arabern belagert wurde, hielten die Bewohner der Belagerung stand. In einem Funkspruch proklamierten sie: „Naharia bleibt deutsch!“

Schwierige Umstellung

Die meisten deutschen und kulturdeutschen Juden, die ab 1933 einwanderten, gingen in die Städte. Das Streben nach einer bürgerlichen Existenz war den Pionieren ein Dorn im Auge.

Im Zuge der Einwanderung aus Mitteleuropa eröffneten in Tel Aviv Hunderte Kaffeehäuser und der Urbanisierungsprozess beschleunigte sich. Aber auch die Einwanderer in den Städten mussten mit Problemen fertigwerden, die sie aus ihrem früheren Leben nicht kannten. Besonders fehlten ihnen ihre vertrauten Berufe und die finanziellen Mittel. Vom Lebensstandard, den sie aus Deutschland gewohnt waren, trennten die Einwanderer Welten. Statt in einer Villa in Nürnberg am Tiergarten lebte die Familie von Gertrud nun in einer Zweizimmerwohnung in Tel Aviv. Obwohl ihr Vater sich nichts anmerken lassen wollte, war ihm oft anzusehen, wie sehr er sich grämte.

Die Mutter von Gabi Schutz konnte sich keine Wohnung in Tel Aviv leisten und zog mit ihrem Sohn nach Bat Yam. Gabi Schutz

Auch die Familie von Riva Schindel, die im August 1938 ins Land kam, litt unter den Umstellungen in der neuen Heimat. Extra

Mitbegründer

Die deutschsprachigen Einwanderer trugen überproportional viel zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Yishuv bei. Sie verfügten über umfassendes Fachwissen, um Handel, Industrie und Geldwirtschaft auf die Höhe der Zeit zu bringen. Als Unternehmer, Industrielle, Facharbeiter und Dienstleister brachten sie wirtschaftlichen Fortschritt.

Der Kaufmann, Zionist und Verleger Salman Schocken, der 1934 aus Deutschland nach Palästina eingewandert war, kaufte die Zeitung Haaretz, gründete anschließend die Haaretz-Gruppe und eröffnete 1939 ein Verlagshaus in Tel Aviv. Sein Sohn Gershon war hier von 1939 bis 1990 Chefredakteur.

Die vielen Beamten, Anwälte und Richter, die aus Deutschland ins Land gekommen waren, wurden nach der Staatsgründung gebraucht, um den Staatsapparat und das Rechtswesen aufzubauen.

Ab 1933 kamen etwa 100 Architekten nach Eretz, die vom Bauhaus geprägt waren. Eine Gruppe von Ärzten unter der Leitung von Felix Theilhaber aus Berlin gründete die liberale Maccabi-Krankenkasse, in der freie Ärztewahl möglich war. Deutsche Professoren leisteten einen bedeutenden Beitrag in Forschung und Lehre und machten Palästina zu einem akademischen Leuchtturm im Nahen Osten. Die Jeckes gründeten das Cameri-Theater, benannt nach den Kammerfestspielen in Berlin; das erste Stück „Diener zweier Herren“ war Premiere dieser Festspiele.

So bemerkte der erste Staatspräsident Chaim Weizmann: „Ich sehe mit Stolz und Genugtuung die Verwandlung, die die Juden aus Deutschland im Lande durchgemacht haben, ihr Beitrag zu unserem Werk ist auf den Gebieten der Ordnung, der Disziplin, der praktischen Leistung und der allgemeinen Lebensqualität bedeutend.“